FRONTIER-Projekt "Schreiben im Holocaust"

Die Getto-Texte und ihr Entstehungshintergrund

Die Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt

Homepage Schreiben Im Holocaust _html 72bacfef

Hrsg. von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke. In Kooperation mit Julian Baranowski, Joanna Podolska, Krystyna Radziszewska, Jacek Walicki. Unter Mitarbeit von Imke Janssen-Mignon, Andrea Löw, Joanna Ratusinska, Elisabeth Turvold und Ewa Wiatr (= Schriftenreihe zur Lodzer Getto-Chronik (Hrsg. von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur / Universität Gießen und dem Staatsarchiv Lodz), 5 Bände.

Ebenso zugänglich sind seit einigen Jahren die Reportagen und Essays des Chronikautors Oskar Singer sowie die inzwischen vergriffene Ausgabe des Tagebuchs von Oskar Rosenfeld.

 

Oskar Singer: „Im Eilschritt durch den Getto-Tag“. Reportagen und Essays aus dem Getto Lodz 1942-1944.

Homepage Schreiben Im Holocaust _html 13385b6

Hrsg. von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke sowie Julian Baranowski, Krystyna Radziszewska und Krzysztof Woźniak. Berlin: Philo 2002.





 

  

Oskar Rosenfeld: Wozu noch Welt. Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz.

Homepage Schreiben Im Holocaust _html 151bedfc

Hrsg. und eingeleitet von Hanno Loewy. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, 1994, (= Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 7) (vergriffen).

Sowohl die Chronik als auch die von den Gettoautoren verfasste Enzyklopädie verdanken ihre Entstehung der grausamen Tatsache, dass alle Bewohner des Lodzer/Litzmannstädter Gettos einer täglichen Arbeit nachgehen mussten, wenn sie zumindest vorübergehend vor den Deportationen in die Vernichtungslager der Nazis geschützt sein wollten.

Mit der auf Karteikarten niedergeschriebenen Enzyklopädie verfolgten die Chronisten das Ziel, eine Kulturgeschichte des Gettos zu erstellen, die in Lexikonform wichtige Daten und Begriffe des Getto-Alltags für die Nachwelt festhalten sollte.¹³ Außerdem wurden Einträge zu den wichtigsten Personen und Einrichtungen verfasst sowie einschneidende Geschehnisse festgehalten. Die Enzyklopädie wurde somit konsequent auf zukünftige Leser ausgerichtet.

Einen Eindruck davon, wie sich die Sprache im Zuge der Bedingungen und Erfahrungen des Getto-Lebens zwangsläufig veränderte – ein Phänomen, das durch die Chronisten in den einzelnen Beiträgen zur Getto-Enzyklopädie festgehalten wurde – gibt die folgende Tagebuchnotiz des Chronisten Oskar Rosenfelds¹⁴:

Enzyklopädie des Gettos.

[…] Die Worte und Wortfolgen genügten nicht den Ansprüchen der Gettowelt. Neue Wörter mußten gebildet werden, alte mußten einen neuen Sinn bekommen. Die Dreisprachigkeit – Jiddisch, Polnisch, Deutsch – erweiterte die Basis dieses Prozesses. Damit war die Möglichkeit einer Bereicherung des Gettosprachschatzes und weiterhin eine Verfeinerung und Nuancierung gegeben.

Wörter, die bisher nur den eingeborenen Sinn hatten, bekamen eine Nebenbedeutung. Sie konnte ironisch, sie konnte aber auch streng sachlich sein. Besonders das jiddische Wort hatte Gelegenheit, sich in seiner Bedeutung zu entfalten. Der an die religiöse Tradition gebundenen Wortfügung wurde ein aktueller Sinn eingeprägt. Hierbei kam dem Einzelnen das Talent für Wort-Spiele zustatten. Auf diesem Wege entstanden Begriffe in der Weise wie sonst Sprichwörter oder ‚Worte im Volksmund‘ entstehen. Die Quelle dieser sprachlichen Schöpfungen liegt im Volke, in den Massen selbst. Niemand kann sagen, wann und wo er dieses oder jenes Wort, diesen oder jenen Begriff zum erstenmal gehört hat. Der phonetische Ausgang all dieser neugeschaffenen Begriffe kann an zahllosen Fällen belegt werden. Da es keine Zeitung gibt, auch sonst kein gedrucktes Wort oder geschriebenes Wort, das ‚schwarz auf weiß‘ verbreitet werden könnte, kann eine neue Formulierung ihren Weg nur von Mund zu Mund nehmen.

Eine neue Formulierung geht rasch durchs Getto, so rasch wie ein Gerücht. Mit nie erlahmender Leidenschaft, hungrig nach Hörenswertem – mag dies auch ein abstraktes Ding sein – nimmt der Mensch des Gettos jede Wortvariante auf. Sie ist für ihn eine Neuigkeit, also ein lebender Faktor in der Eintönigkeit des Daseins. […]

O.R. 1. Dezember 1943

 

Letzte Änderung: 23.05.2018
zum Seitenanfang/up